Seit Juni 1987 hat unsere Schule den Namen „Anne-Frank-Gymnasium“ – Aufbaugymnasium der Stadt Halver. Viele – Lehrer, Schüler, Eltern und auch Vertreter unserer Stadt – mussten sich erst an den Namen gewöhnen. In den Köpfen hatte sich der Begriff Aufbaugymnasium, besonders die gängige Abkürzung AGH, wie ein Markenzeichen eingeprägt. So sehr sich viele Schüler, vor allem unsere Abiturienten, einen „richtigen“ Namen für unsere Schule wünschten, viele hätten auch gern den „namenlosen“ Zustand beibehalten. Die Mehrheit entschied sich jedoch für die Wahl eines Namens.
Anne-Frank-Gymnasium – wie kam es zu dieser Wahl? Von den Schülern wurde der Name Anne Frank von Beginn an favorisiert. Vom Lehrerkollegium wurde der Name Gutenberg, von der Schulpflegschaft die Namen Einstein und Albert Schweitzer zur Diskussion gestellt. Die Schulkonferenz als wichtigstes Entscheidungsgremium machte es sich nicht leicht, aber zuletzt fiel die Entscheidung für Anne Frank klar aus. Schulausschuss und Rat der Stadt Halver nahmen den Vorschlag der Schulkonferenz ohne Gegenstimme an.
Ich gestehe, dass ich zuerst nicht restlos glücklich über die Entscheidung war. Sehr bedeutende Persönlichkeiten wie Gutenberg und Albert Schweitzer waren unterlegen. Aber als ich das Tagebuch der Anne Frank noch einmal gelesen hatte, war ich ebenso beeindruckt wie vor dreißig Jahren, als ich das Tagebuch zum ersten Mal gelesen habe. Was für ein Mensch war diese Anne Frank? In welcher Zeit hat sie gelebt? Dem Schicksal, das diesem Mädchen zugeteilt gewesen ist, möchte man nicht gern begegnen. Am Leben Anne Franks wird in nahezu dramatischer Form sichtbar, wie abhängig unser Leben von Zeitgeschichte, Rassen- und Religionszugehörigkeit ist.
Sehen wir uns das Schicksal dieses jüdischen Mädchens Anne Frank an: Am 12. Juni 1929 wurde sie in Frankfurt geboren. 1933 musste ihre Familie nach Holland fliehen. Um nicht ins Konzentrationslager zu kommen, tauchte die Familie 1942 unter. Zwei Jahre konnte sie sich, zusammen mit einer anderen Familie und einem Zahnarzt auf engstem Raum zusammengepfercht, in einem Hinterhaus in Amsterdam versteckt halten. Acht Menschen lebten in ständiger Angst, von der Gestapo entdeckt zu werden. Diese Angst und ihre Frustration, sich dauernd ertragen zu müssen und nicht einmal hinaus ans Tageslicht zu können, entlud sich in Aggressionen und ständigen Streitereien. In dieser Atmosphäre schrieb Anne Frank ihr Tagebuch. Nach zwei Jahren, im August 1944, wurde das Versteck von der Gestapo entdeckt. Über Auschwitz wurde Anne Frank mit ihrer Familie nach Bergen-Belsen gebracht, wo sie im März 1945 starb. Nur ihr Vater überlebte als einziger der acht Personen die Hölle von Auschwitz.
In diese schicksalhafte Situation wurde Anne Frank hineingeboren, ein Schicksal, das für sie als jüdisches Mädchen nur Verfolgung, Unterdrückung und den Tod im Konzentrationslager vorsah. Das Tagebuch ist das erschütternde Dokument nicht nur dieses Schicksals, das Millionen mit ihr erleiden mussten, sondern das Dokument eines ungewöhnlich begabten und empfindsamen Kindes. Kühle Schärfe der Menschenbeobachtung, aber auch viel Sinn für Situationskomik, charakterisieren das 13-jährige Mädchen. Sie schreibt das Tagebuch nicht als Selbstreflexion, sondern in Form einzelner Berichte an die Phantasiefreundin Kitty. Anne brauchte das Gegenüber. Sie sehnte sich in der Zimmerhölle des Hinterhauses nach den anderen, nach der Freiheit. „Am meisten wünsche ich mir, dass wir wieder in der eigenen Wohnung sind, wo wir tun und lassen können, was wir wollen, dann, dass ich mich frei bewegen kann, dass ich Anleitung für meine Arbeit erhalte, dass ich mit meinen Freundinnen in die Schule gehen kann.“ Nach eineinhalb Jahren im Hinterhaus schreibt Anne: „Wann endlich werden wir wieder hinausdürfen in Luft und Freiheit? Aber wenn ich mich auch nicht verbergen kann, mich im Gegenteil mutig und aufrecht zeigen muss, lassen sich die Gedanken nicht kommandieren und kommen wieder, immer wieder. Glaube mir, wenn man eineinhalb Jahre eingeschlossen sitzt, wird es manchmal zuviel. Mag es auch unrecht und undankbar sein, aber Gefühle lassen sich nicht wegleugnen. „Tanzen möchte ich, radeln, die Welt sehen, meine Jugend genießen, frei sein.“ Dieses 14-jahrige Mädchen mahnt uns, über den Wert unseres Alltags und unserer Freiheit nachzudenken. Anne hatte nur eine einzige Sehnsucht: ein alltägliches, freies Leben führen zu können.
Für mich liegt der Wert des Tagebuches auch in den Reflexionen und bohrenden Fragen, die zum Teil so aktuell sind wie vor 45 Jahren: „Warum, wofür ist überhaupt Krieg? Warum können die Menschen nicht in Frieden leben? Warum all die Verwüstungen? Ja, warum werden in England stets größere Flugzeuge gebaut, noch schwerere Bomben konstruiert und zur selben Zeit Reihenhäuser für den Wiederaufbau? Warum müssen Menschen hungern, wenn in anderen Weltteilen Nahrungsmittel umkommen? Warum sind die Menschen so töricht? Ich glaube nicht, dass allein die führenden Männer am Krieg schuld sind. Nein, der kleine Mann anscheinend auch, sonst würden die Völker als solche nicht mitmachen. Der Drang zur Vernichtung ist nun einmal in dem Menschen, der Drang zum Töten, Morden und Wüten, und solange nicht die gesamte Menschheit eine Metamorphose durchgemacht hat, wird es Kriege geben.“ Aber nur wegen der noch so gescheiten Ausführungen hatte das Tagebuch nie einen solchen Zauber auf den Leser ausüben können. Diesen Zauber schafft vor allem der Mensch Anne Frank: Wie zart kann sie über die Liebe zu ihrem Peter berichten, wie burschikos kann sie sich über die unmögliche Frau Daan lustig machen, und wie einfühlsam berichtet sie über das Wechselbad der Gefühle in der Auseinandersetzung mit ihren Eltern. Für die Schüler dieser Schule kann der Name Anne Frank viel mehr bedeuten als jeder andere Name: Ein Mädchen im Alter unserer Schülerinnen. Symbol für unsinnige, unmenschliche Verfolgung, ein Mädchen mit so viel Geist, Reflexionsvermögen und einem stark fühlenden Herzen.
Das Mädchen Anne Frank mahnt uns und verpflichtet uns, dankbar zu sein für unsere Freiheit und unseren Alltag: aber es mahnt uns auch, sensibel zu sein gegen alles und jeden, der Gewalt und Menschenverachtung zur Durchsetzung von Zielen rechtfertigt. Auch heute gibt es Gewalt, Folter, Unmenschlichkeit und Verfolgung. Deshalb ist es notwendig, dieser Stimme der Anne Frank Gehör zu verschaffen, dieser Stimme der Mahnung, der Menschlichkeit und der Liebe. Und ich fürchte, dies wird auch weiterhin notwendig sein.
Indem wir unsere Schule nach Anne Frank benannten, verschaffen wir dieser Stimme Gehör, Gehör über den Tag hinaus, vielleicht über Jahrzehnte.
Erhard Fipper, Schulleiter des Anne-Frank-Gymnasiums bis 2002
08. März 1933 | Errichtung erster Konzentrationslager wird angekündigt |
21. März 1933 | Einlieferung erster Gefangener, sowie der rasche Ausbau der Lager |
01. April 1933 | Boykott aller jüdischen Geschäfte |
10.–16. Sept. 1935 | Reichsparteitag der NSDAP“, Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ (= „Nürnberger Gesetze“) |
9./10. Nov. 1938 | Reichspogromnacht, verharmlost: „Reichskristallnacht“ genannt |
30. Januar 1939 | Hitler prophezeit für den Fall eines Krieges „Die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ |
01. Sept. 1939 | Der 2. Weltkrieg beginnt mit Hitlers Angriff auf Polen |
Okt. 1939 | Errichtung erster „Euthanasie- Anstalten“ |
23. Nov. 1939 | Einführung des Judensterns |
Herbst 1940 | zahlreiche jüdische Ghettos werden errichtet |
Dezember 1941 | erste jüdische Tötungen in Vernichtungslagern durch Gas (Zyklon B) |
Ende März 1942 | erste Judentransporte nach Auschwitz |
April 1943 | Beginn medizinischer Versuche an Juden und anderen Häftlingen |
ab 01. Juli 1943 | Juden haben keine Rechte mehr, unterstehen nur noch der Polizei |
24. Aug. 1944 | Befreiung erster Vernichtungslager |
01. Nov 1944 | Befehl Himmlers, Tötungen in Auschwitz einzustellen und Spuren zu verwischen |
24. Aug. 1944–07. Mai 1945 | Befreiung aller Konzentrationslager |
30. April 1945 | Selbstmord Hitlers |
7./9. Mai 1945 | Kapitulation der deutschen Wehrmacht |
Ungefähr 6 Millionen Juden fielen dem Holocaust zum Opfer.
Anne Franks Tagebuchaufzeichnungen werden von einer Mitarbeiterin im Hinterhaus der Firma Opekta gefunden. Otto Frank, Annes Vater, der als einziger die Deportation überlebt hat, veröffentlicht das Tagebuch im Jahre 1947. Bis ins Detail schildert Anne die aktuellen Tageserlebnisse im Versteck des Hinterhauses. Sowohl private als auch politische Dinge erzählt Anne ihrer Ersatzfreundin, der sie den Namen „Kitty“ gegeben hat.
Intensiv wird im gesamten Buch die Beziehung zu den Eltern thematisiert, die sich mit Annes jugendlicher Entwicklung verändert.
„Mein Vater, der liebste Schatz von einem Vater, den ich je getroffen habe…“ Ihr Vater wird für sie eine große Stütze im Alltag, in dem sie sich immer wieder neu gegen Angriffe und Verletzungen der eingesperrten Erwachsenen wappnen muss. Anne glaubt, von allen bevormundet zu werden. Ein Eintrag vom 3. Oktober 1942:
„[…] Gestern gab es wieder einen Zusammenstoß, und Mutter hat sich schrecklich aufgespielt. Sie hat Papa all meine Sünden erzählt und heftig angefangen zu weinen. Ich natürlich auch, und ich hatte sowieso schon schreckliche Kopfschmerzen. Ich habe Papi endlich gesagt, dass ich ihn viel lieber habe als Mutter. Daraufhin hat er gesagt, dass das schon wieder vorbeigehen würde, aber das glaube ich nicht. Mutter kann ich nun mal nicht ausstehen, und ich muss mich mit Gewalt zwingen, sie nicht anzuschnauzen und ruhig zu bleiben. Ich könnte ihr glatt ins Gesicht schlagen. Ich weiß nicht, wie es kommt, dass ich so eine schreckliche Abneigung gegen sie habe. […] Ich kann mir auch gut vorstellen, dass Mutter mal stirbt. Aber wenn Papa stirbt, das könnte ich, glaube ich, nicht aushalten. […]“
Besonders in der ersten Zeit gibt es im Versteck des Hauses der Prinsengracht häufig Auseinandersetzungen zwischen Anne und ihrer Mutter. Darin geht es meistens um Annes charakterliche Defizite, wobei es sich mehr um den mütterlichen Wunsch zu handeln scheint, ihre Töchter würden sich in ihrer Sanftmut mehr gleichen. Das Mädchen berichtet verzweifelt, dass sie sich mit ihren Freundinnen besser verstünde als mit ihrer eigenen Mutter. So entfremden sich die beiden immer mehr voneinander.Der Konflikt wird keinesfalls durch ein klärendes Gespräch gelöst – vielmehr belastet das Schweigen die Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Dazu kommt, dass Frau Frank sich oft mit Petronella van Daan auseinandersetzen muss, in einer Art „Konkurrenzkampf“ um die Liebe und Anerkennung ihres Mannes. Die ganze Situation spitzt sich im Laufe der Zeit immer mehr zu, kommt jedoch nie zum Ausbruch, denn die Versteckten müssen die Not und die Strapazen des Krieges bewältigen.
„[…] Ich dampfe vor Wut und darf es nicht zeigen. Ich würde am liebsten mit den Füßen aufstampfen, schreien, Mutter gründlich durchschütteln, weinen und was weiß ich noch alles wegen der bösen Worte, der spöttischen Blicke, der Beschuldigungen, die mich jeden Tag aufs Neue treffen wie Pfeile von einem straff gespannten Bogen und die so schwer aus meinem Körper zu ziehen sind. […]“
Während der zwei Jahre entwickelt sie immer neue Strategien, die mütterliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als das nicht gelingt, verschließt sich das junge Mädchen innerlich und akzeptiert die scheinbar nicht zu ändernde Situation. Später findet sie einen Leidensgenossen in Peter, dem es in seiner Mutterbeziehung ähnlich ergeht und die beiden tauschen sich viel über ihre Gefühle aus. Insgesamt lernt Anne, mit ihren eigenen Veränderungen als Teenager umzugehen, wird reifer und bekommt langsam einen neuen Blick für die Dinge. Sie erkennt mit unglaublicher Menschenkenntnis schon in ihren jungen Jahren die Eheprobleme ihrer Eltern, was ihr wiederum hilft, ein bisschen Verständnis für Edith Frank aufzubringen.
Schließlich kann sie auch mit ihrer Schwester, Margot Frank, über die Beziehung zu ihren Eltern reden, wie sehr sie die Mutterliebe vermisst und davon enttäuscht ist.
Sie beschreibt, wie unabhängig sie die Jahre im Hinterhaus gemacht haben, wie wenig sie jetzt noch auf ihre Eltern angewiesen ist. Anne unternimmt einen letzten Versuch, die Beziehung zu klären. Im Tagebuch heißt es am 5. und 7. Mai 1944:
„[…] Ich glaube, Vater, dass du eine Erklärung von mir erwartest, ich will sie dir geben. […] Ich habe keine Mutter mehr nötig, ich bin durch all die Kämpfe stark geworden. Nun, da ich es geschafft habe, will ich auch meinen eigenen Weg gehen, den Weg, den ich für richtig halte. […] Entweder du verbietest mir alles, oder du vertraust mir durch dick und dünn! Nur lass mich dann auch in Ruhe! Deine Anne M. Frank.“
Herr Frank ist erschüttert über diesen Brief und macht seiner Tochter in einem ernsten Gespräch klar, dass sie kein Recht zu solchen Aussagen habe und wie undankbar sie sei. Anne sieht das ein und bereut ihre Vorwürfe.
Dem Leser des Tagebuchs wird deutlich, dass ihre pubertären Streitereien mit der Zeit zurückgehen. Denn je älter Anne wird, desto überlegter werden ihre Aufzeichnungen. Anne bemerkt ihre Nachdenklichkeit, ihre zunehmende innere Reife und berichtet häufiger über eigene Probleme, Gedanken und Gefühle.
Die Einträge der 15-jährigen Anne enden am 1. August 1944 – nur wenige Tage vor ihrer Verhaftung.